Es ist wohl eines der berühmtesten deutschen Gedichte überhaupt. Es entstammt der Feder von Johann Wolfgang von Goethe und wurde von ihm in verschieden Versionen verfasst. Unten liest du eine späte Fassung. Es zählt als Naturgedicht, doch wurde in ihm auch naturphilosophisches Gedankengut in kürzeste Form gebracht. Des Weiteren ist ein Kunstwerk deutscher Sprachbildlichkeit.
Eine Besonderheit an diesem Gedicht sind die verschieden gebrauchten Titel. Neben Ein Gleiches finden wir Nachtlied oder Wandrers Nachtlied, oder das Zitat der ersten Worte: Über allen Gipfeln ist Ruh.
∼ Ein Gleiches ∼
Über allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Kurze Interpretation der Dichterverse
Zum Gedicht ist schon viel Interpretierendes geschrieben worden und mancher fragt sich, ob man noch neue Gedanken zu diesem Meisterwerk finden kann. Zunächst möchte ich noch einmal auf das Sprachbild aufmerksam machen. Der Klang der einzelnen Buchstaben und Wörter stimmen in diesen Versen in wahrlich wort-mystischer Form überein mit dem Geist dessen, was hier die deutsche Sprache formt.
"Ruhe" und "Hauch" geben bereits mit ihrer Sprachmelodie den Kern der Worte frei. Doch der Geist scheint weniger in den kurzen Versen des Gedichtes verborgen zu sein, sondern in den Pausen. In diesem Sinne sprich die kurzen Verse langsam aus und achte auf die Pausen.
Wenn wir einen Vergleich zu anderen Gedichten suchen, werden wir nur in Japan fündig, dort wo der Heiku eine dichterische Tradition hat. Wer also an einer Gedichtinterpretation arbeitet, der hole sich dort entsprechende Anregungen.
Bemerkenswert ist, dass die Goetheverse auf keinerlei Stimmungskontrast aufbauen. Verglichen mit der Malerei ist das "Über allen Gipfeln ist Ruh" eine farbliches Ton in Ton Gemälde (anders bei Hölderlins "Hälfte des Lebens"). Die Worte beschreiben einen Moment in der Natur, der so oft nur wenige Sekunden anhält. Vollkommene Stille. Natürlich hat jeder Leser der Verse den Kontrast zum aufgezeigten Stimmungsbild innerlich vor Augen. Die Wipfel, die sich im Wind wiegen oder im tosenden Sturm biegen, oder andere Geräusche des Waldes. Der Wald ist eigentlich keine Metapher der Stille. Darin liegt die Spannung der Zeilen.
Manche Interpreten meinen, dass das Gedicht eine Art Todessehnsucht in sich birgt. Das muss es nicht. Der Wald ruht nicht. Er ist Symbol für eine ewig fortdauernde Lebendigkeit. Doch hin und wieder braucht das unentwegt Tätige eine Pause. Manche europäischen Mystiker und wohl auch die Zen-Mönche des fernen Ostens sehen in der Ruhe oft die höchste geistige Aktivität. Selbst die Vögelchen als Metapher der geistigen Welten, sie schweigen im Walde. Doch diese Stille ist nicht die Stille des Todes, sondern der Sammlung.
Oft bemerkt man in der Natur solche Momente der Stille, weil für einen Augenblick die Stimmern der Vögel verstummen. Doch es ist nur ein Moment, dann geht das Leben weiter. Vielleicht will uns der Dichter sich selbst und uns darauf aufmerksam machen und erinnern, dass unser rastloses Tun solcher stiller Pausen bedarf. Und selbst dort, wo wir auf diese Art von Ruhe (und Goethe beschreibt eine bestimmte Art von Ruhe) stoßen, herrscht innerlich oft die allerhöchste Tätigkeit. Diese innerste geistige Kraft, der Geistfunke im Menschen, kann aber auch nur dann seine Art von Tätigkeit entfalten, wenn Körper (Wald) und Seele (Vöglein) zu absoluter Ruhe gefunden haben. Dann wird der Wanderer (Geist des Menschen) auch zu Ruhe kommen, und sich für die Wanderschaft stärken.
Es mag sein, dass der romantische Schriftsteller Ludwig Tiecks im Kunstmärchen "Der blonde Eckbert" (1796) den Begriff der "Waldeinsamkeit" dem Geist des Goethegedichts entlehnte. Dort ist er das "Symbol für die heile Welt im inneren und äußeren Erleben" [1] und wurde bald zum Gedankengut der ganzen romantischen Bewegung. Siehe auch Bild oben.
Weitere Verse des deutschen Dicherfürsten mit Interpretation: "Gefunden" (Ich ging im Walde ...)
Literatur & Quellen:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Waldeinsamkeit
Gedichtinterpretation G.J [ZP.GJ.2.2]