Selige Sehnsucht – Stirb und werde! (Goethe) – Interpretation

Nachtfalter auf einem Grabmal

Das Gedicht "Selige Sehnsucht" von Johann Wolfgang von Goethe ist eines der geachtetsten Gedichte des deutschen Dichterfürsten, welches 1817 veröffentlicht wurde. Bekannt und viel zitiert ist die letzte Strophe und vor allem die Sentenz des "Stirb und werde". Trotzdem lesen wir oft, dass gerade dieses Gedicht schwierig zu interpretieren sei, was es eigentlich nicht ist. Wer ein offenes Herz hat, braucht nur dessen Sprache zu verstehen und damit versteht man auch diese Verse, denn ein Gedicht ist ohnehin so angelegt, dass man es auch ohne ein besonders Vorwissen in sich aufnehmen kann. Welche Intuitionen Goethe gehabt haben mag, ist nicht der Sinn einer Gedichtinterpretation.

Wenn wir Gedichte dieser Art verstehen wollen, so braucht es insofern eine Vorbildung, dass in diesen gewisse archetypische Symbole gefunden werden und das deren Bilder zur Wirkung kommen müssen. Das Gedicht spielt auf die Metapher des Bildes an, in dem ein Nachtfalter durch den Lichtschein einer brennenden Kerze angezogen, in derselben verbrennt. Doch das Bild geht unausgesprochen weiter, da der Dichter in der letzten Strophe vom "Stirb und werde!" spricht, hat er im Hintergrund neben der Schmetterlingsmetapher ganz sicher auch noch den Mythos vom sagenumwobenen Phönix im Blickfeld. Doch lesen wir zunächst das Gedicht:

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Interpretation

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Johann Wolfgang von Goethe ein Freimaurer war und daneben auch ein Illuminat, was neueste Forschungen (Stichwort Schwedenkiste) ans Tageslicht brachten. Was diese Vereinigungen ausmachen und was sie mit den von Goethe ebenso anziehenden antiken Mysterienkulten gemeinsam haben, ist die Erkenntnis, dass gewisse Erfahrungen, wenn sie allzu-sehr der Öffentlichkeit preisgegeben werden oft ins lächerliche gezogen werden. Damit beginnt der Dichter, bevor er den merkwürdigen Gedanken einer Todessehnsucht ausspricht.

Das folgende Gedankenspiel verlangt jedoch nach einem Schutzraum und eine Art Abgeschiedenheit und Gemütsruhe, welche die Freimaurerei als Hütte, bzw. Bauhütte (Loge) bezeichnet. Dieses Geheimnis der alten Bünde gibt der Dichter hier preis, welches auch der Leser aufnehmen soll. Damit ist angedeutet, dass der Leser die Erkenntnisse der folgenden Wort nicht im Äußeren finden wird (exoterisch) – in diesem Falle mit wissenschaftlich erscheinenden Interpretationen der Verse, sondern, dass alles nötige Wissen dazu im Herzen des Lesers selbst vorhanden ist (esoterisch).

Dann beschreibt Goethe einfach nur die dunkle Welt der Motten, das Lebensfluidum dieser Falter und ihren Daseinszweck sich fortzupflanzen und so eine Generation an die andere zu reihen. Doch dann fühlen sich einige dieser Schmetterlingsinsekten zu dem Licht hingezogen, welches von der Kerze herrührt. Es ist zwar nur der matte Abglanz des Tageslichtes, doch die eine oder andere Motte unter hunderten, welche alle nur den Schein der unerreichbaren Sterne und des Mondes kennen, wollen in dieses Licht gelangen: "Und zuletzt des Lichts begierig, Bist du Schmetterling verbrannt."

Auf dem Wege zu neuen Dimensionen des Erkennens geht es dem Menschen mehrfach so, wie diesem Falter. Mehr und differenziertere Gedanken müssen wir in diese Metapher zunächst nicht hineininterpretieren, denn Symbole, Allegorien und Metaphern sind oft nur auf einen Aspekt auszulegen. Allerdings wiesen schon immer die Mystiker auf den Umstand hin, dass ein Bildzeichen auf verschieden Ebenen Aussagen treffen und zwar mindestens auf materieller, seelischer und geistiger Ebene.

Symbol Kerze Feuer FliegeSymbol der in der brennenden Kerze verbrennenden Motte in der Kassettenverzierung neben einem Renaissance-Kamin [1]

Mit der letzten Strophe der "Seligen Sehnsucht" kommt jedoch noch einmal Bewegung in unser Gedankenbild von dem im Licht verbrennenden Nachtfalter. Der Dichter selber gibt zum vorher gesagten eine eigene Interpretation: "Und so lang du das nicht hast [das Streben zu jener anderen Lichtdimension], Dieses: Stirb und werde!" [mit dem Streben, mit dem immer wieder ein Teil des Weltverstandes stirbt] – Verbleibst du ein nachtschwärmender Schmetterling in der Welt der Dunkelheit und Schatten. Natürlich kommen bei dem Nachsatz des "Stirb und werde!" beim Kenner der antiken Mythen – und das waren die Zeitgenossen Goethes auf jeden Fall – immer wider Assoziationen zum Phönix, dem Vogel ägyptischer Mysterien, welcher sich aller 500 Jahre in einem östlichen (persischen) Sonnentempel niederlässt, dort sein Nest baut, in diesem verbrennt, in den Flammen neu ersteht und dann zurück nach Ägypten in die Sonnenstadt fliegt.

Es ist der Blick auf das Einmalige, auf geistigen Adel, den nur derjenige anzustreben vermag, der das zeitlich eng begrenzte Erleben des Alltagsmenschen verlässt und anderen Raum- und Zeitkreisläufe zustrebt. Letzteres kann vielfältig geschehen und ist gar nicht immer so sehr mystisch aufzufassen, denn die Gedichtbände Goethes sollten zwar geistig hochwertige, doch auch unterhaltsame Werke sein. Wer dazu mehr erfahren möchte, der studiere einfach nur die Leserschaft, an welche sich Goethe mit diesem Gedicht in der Ausgabe des est-östlicher Divans wandte.

Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben soll zum Schluss aufzeigen, wie wir damit einen Bezug zum Goethegedicht hinbekommen. Man denke nur an die Schicksalsschläge, die durch schwere Krankheit oder eine andere plötzliche negativ erscheinende Lebensveränderung einen Menschen treffen kann. Die Verarbeitung solcher Ereignisse, wenn wir sie als Lebensschule betrachten und wenn wir uns immer wieder "neu erfinden" – wie man es umgangssprachlich sagt – kann diese Herangehensweise genau diesem "Stirb und werde!" entsprechen.


[1] Das Bild mit der Kerze und der (im Bild fasst völlig verblassten) Fliege/Motte enthält die lateinische Inschrift COMBRUIT INCAUTOS – SIE VERBRENNT DIE UNVORSICHTIGEN – befindlich im Schloss Cormatin (bei Taizé und Cluny) mit dem sonderbaren "Kabinett des Marquis d’Huxelles", einer versteckten Studierstube hermetischer Mysterien