Aufsteigt der Strahl und fallend gießt er voll... Ein kurzes, aber sehr schönes, sogenanntes Dinggedicht des Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898), zu welchem er auf seiner Italienreise inspiriert wurde. Diese Verse in heutiger Form ist die siebente Version einer Reihe von vorhergegangen Fassungen. Meyer veröffentlichte die letzte Variante im Jahre 1882. Es zeigt, dass selbst in einfachen alltäglich Objekten oder Kleinarchitekturen wie einem Brunnen eine Poesie innewohnt. Doch eine Quelle und davon abgeleitet der Brunnen bzw. Springbrunnen mit seinem imposanten Wasserspiel hat auch eine symbolische Komponente. Die Quelle ist das Prinzip des immerwährenden Gebens. Meyers Römischer Brunnen (Springbrunnen) mit seinen drei übereinander liegenden Schalen vertieft die Bedeutung vom wasserspendenden Quell hin zum Prinzip des Gebens und Nehmens, womit sich weitgehende Möglichkeiten einer individuellen Gedichtinterpretation eröffnen.
∼ Der römische Brunnen ∼
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
C. F. Meyer (1882)
Bevor wir uns dem bunten Blumenstrauß von Interpretations-Varianten widmen, sei darauf hingewiesen, dass Der Römische Brunnen zu den besonders wertvollen Gedichten deutscher Sprache zählt. Der Grund hierfür ist, dass sowohl das Versmaß als auch die Harmonie im Sprachbild in besonderer Weise mit dem Sinngehalt der Worte ausbalanciert sind [1]. Das heißt, wenn du allein schon die Verse deutlich und ohne Hast zitierst und Spannungspausen zwischen den Zeilen lässt, würde ein Sprach-Unkundiger dies als angenehm empfinden und den Sinn "erfühlen".
Ganz ähnlich verhält es sich bei dem vergleichbar berühmten Goethe-Gedicht "Ein Gleiches" (Wanderers Nachtlied), dem übrigens auch mehrere Versionen vorausgingen. Ein weiteres schönes Beispiel zu dieser Stilmittel gibt es in englischer Sprache mit dem "Lied vom Schlaf: Hush No More Be Silent All" [2], welches wir in Henry Purcells Barock-Oper "The Fairy-Queen" (die Elfenkönigin, 2. Akt, 17.) finden, und deren Text auf William Shakespeare zurückgeht. Doch kommen wir nun zur Gedichtanalyse:
Ideen für eine Interpretation
Bereits im einführenden Text dieser Seite wurde auf den symbolischen Sinngehalt der Worte hingewiesen. Eine tiefer gehende Bedeutung ist meiner Meinung nach gar nicht so abwegig, da der Dichter Conrad Ferdinand Meyer sowohl als Vertreter der Spätromantik gilt als auch ein Vorreiter des sogenannten lyrischen Symbolismus (um 1890 in Frankreich entstanden) war, welcher ein Gegengewicht zur Industrialisierung und zur materialistischen Philosophie jener Zeitepoche schuf.
1. Das gebende Prinzip
Das Interessante bei einer Gedichtinterpretation, die wir vielleicht für Schule oder Studium erstellen müssen, ist der Umstand, dass sehr vielschichtige Ausdeutungen möglich sind. Zuerst wollen wir dafür die Symbolik der Quelle hernehmen, da der Schalen-Brunnen ja eine Quelle in bildhauer-künstlerischer Form widerspiegelt. Im Zusammenhang damit finden sich im Internet einige Ausführungen, die auf einen denkwürdigen und schönen Spruch hinweisen, der auf einem alten Dorfbrunnen zu finden sein soll: "So schön und einfach ist mein Leben – Geben, immer nur geben!" [3].
Das gebende und sich entfaltende Prinzip ist tatsächlich eine schöne Symbolik, die dem Bild innewohnt. Der christliche Schriftsteller Tertullian (ca. 150 – 220 n. Chr.) bezog das Sinnbild der Quelle sogar auf Gott als das immerfort gebende Prinzip, und das Bild von Quelle, Bach und Fluss bezog er auf die göttliche Trinität [4]. Im übertragenen Sinne mag auch die lebendige Natur, aus der wir täglich schöpfen, und die Sonne als deren Urgrund, eine Möglichkeit der Gedichtauslegung sein.
2. Geben und nehmen
Wie bereits angedeutet geht die Metapher des römischen Brunnens, der aus drei übereinander liegenden Wasserschalen besteht, über das gebende Prinzip der Quelle weit hinaus, indem sich das lebendige, aufsprudelnde Wasser zunächst in einer Schale sammelt und dort zur Ruhe kommt. In der Symbolsprache ist die Bedeutung der Schale, und mit ihr verwandt auch der Kelch, ein Sinnbild für das empfangende Prinzip. Man kann nun in beiden Axiomen dass Männliche und Weibliche oder das Yin und Yang erkennen und hätte wiederum Ideenmaterial genug, die Interpretation in diese Richtung zu führen.
Christliche Mystik, Trichotomie
Im theologischen Sinne ist die vom Quell gespeiste Schale eine Metapher für die Seele des Menschen, die vom göttlichen Geist belebt wird. Aus dieser Sichtweise heraus wird uns auch klar, warum unsere Vorfahren der Gottheit das männliche Prinzip zugesprochen haben (Gottvater). Die Seele ist in diesem Denkmuster das weibliche Prinzip. Sie empfängt den Geistfunken, bildet damit ihren Seelenkörper aus und dieser wiederum einen materiellen Körper. Dieses Zwiebelschalen-Prinzip ineinandersteckender Wesensausformungen (Geist, Seele, Leib – Trichotomie) kann man auch in den zusammengehörigen Schalen des Brunnens wiederfinden.
Wem das zu abwegig oder einfach auch zu theologisch erscheint, der kann seine Auslegungen auch im praktischen Leben suchen. Denn wir dürfen den Versen auch eine ganz einfache überlebenswichtige Anleitung entnehmen. So ehrenwert es beispielsweise auch ist, als Mensch (im sprichwörtlichen Sinne einer "Mutter Teresa") immer nur zu geben, so ist das nicht der Sinn und Zweck des Lebens. Jeder Mensch muss auch aus dem nehmenden Prinzip schöpfen dürfen und wenn es nur die Zeit ist, die man sich nimmt, in der Ruhe und Stille Kraft zu sammeln. Das Ruhen des Wassers in der Brunnenschale, die übrigens als horizontales Grundelement konträr dem vertikalen Element der Brunnenarchitektur entgegensteht, ist hierfür das Gleichnis. Auch daraus können sich Ansätze für eine sehr individuelle Gedichtinterpretation ergeben.
Kontemplation
Das ruhende Wasser ist weiterhin Sinnbild für Meditation und Kontemplation oder auch ganz vereinfacht Zeit für eine Mußestunde. Wobei das schöne alte Wort "Muße" im Sinngehalt nicht nur Faulenzen oder Nichtstun in seiner negativen Bedeutung meint. Der althochdeutsch-germanische Wortkern [5] bezeichnet damit auch das Warten auf angemessene Möglichkeiten. Das heißt, mit Geduld und dem sich Zeit nehmen für eine Sache, erreichen wir oft mehr als mit überhasteten Aktionismus.
3. Vom Abgeben
Wenn bisher die Horizontale als Gegensätzlichkeit zur Vertikalen bzw. das aus der chinesischen Philosophie stammende Yin und Yang zur Sprache kam, so gehen diese Deutungen schon sehr in Richtung Dualität. Es handelt sich um zwei Gegensatzpaare, die sich zunächst konträr gegenüberstehen, wie auch Hell und Dunkel oder Gut und Böse, sich dann aber – in philosophischen Kategorien gedacht – auch irgendwie gegenseitig ergänzen. Im Gedicht vom Römischen Brunnen geht Meyer jedoch wieder einen Schritt weiter und kommt zahlen-symbolisch betrachtet von der Zwei zur Drei. "Die zweite gibt, sie wird zu reich, der dritten wallend ihre Flut, ..." Mit diesem fügt sich nun noch das Abgeben hinzu. Das geschieht im Zusammenhang mit dem "Überfluss". Geben und Nehmen kann durchaus auch zu Reichtum und Überfluss führen, wobei Reichtum hier keinesfalls negativ dargestellt sein soll. Es könnte sich ja auch um geistigen Reichtum handeln. Andererseits ist es natürlich klar, dass das Abgeben vom materiellen Reichtum – besser gesagt vom Überfluss – zu den Lebensprinzipien gehört, welche eine Gesellschaft kennzeichnen sollte.
Wer ruhig und genau betrachten und beobachten kann, wird dieses Prinzip aber auch in der Natur wiederfinden, wenn sie intakt ist. Der Mensch kann durchaus von diesem Überfluss nehmen, wenn er das Abgeben versteht.
Eine weitere Ebene
Mit dem abgebenden Überfließen gelangen wir – wenn wir beim Bild des römischen Schalen-Wasserspiels bleiben – dann sogar noch auf eine neue Ebene. Man kann das Bild des römischen Brunnens nämlich auch dahingehend betrachten. Die Schalen mögen somit das Symbol für Erkenntnisstufen sein. Das Besondere an diesem Vergleich ist, dass er sich gegen unsere Gewohnheit, uns Erkenntnisse als aufsteigendes System bildlich vor Augen zu führen, stellt. Aus dem Zen-Buddhismus gibt es beispielsweise die Metapher des Fisches, der die Stufen eines Wasserfalls aufwärts überwindet. "Der Karpfen wird den Wasserfall überspringen und sich in einen Drachen verwandeln, der sich dann in den Himmel erhebt" (Shunmyo Masuno). Das ist natürlich eine tiefgehende Bildsprache.
Das Gegenteil von Übermut
Der Römische Brunnen mag in ähnlicher Weise interpretierbar sein, wobei ein herabrieselndes Wasser, im Zusammenhang mit der ruhenden Wasserfläche, in der Kunst oft auch ein Bild für die Demut ist. Sie ist ein Sammelbecken für etliche Erkenntnisse, die wir im Leben sammeln bzw. oft sammeln müssen. Die Philosophen und Religionsphilosophen sahen die Demut dabei aber selten als eine Art Unterwürfigkeitsverhalten, sondern als den Gegenpart zum Übermut. Der Mut zur Zurückhaltung mag den Sinn dieser Bildersprache vielleicht am besten treffen und wäre wiederum auch ein sehr lebenspraktischer Rat, der sich aus der Interpretation ergibt.
Und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht ...
Von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) stammt das berühmte Zitat "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile", und so verhält es sich auch bei der Interpretation dieser Verse. Das Zusammenspiel all der oben genannten und wirkenden Prinzipien – und das in wenigen Zeilen minimalistisch ausgedrückt – macht die Lebendigkeit des Gedichts aus.
Auf ein symbolisches Thema der dritten Zeile sei noch hingewiesen und zwar auf das sich verschleiernde Überfließen. In der Kunst ist der Schleier schon immer das Sinnbild für geheimnisvoller Vorgänge im Leben. Ob es an dieser Stelle die Absicht des Dichters ist, eine Metapher darin zu sehen, oder ob er nur die Schönheit im Spiel des Wassers beschrieb, mag in dieser Deutungshypothese ein Geheimnis bleiben.
Natürlich zeigt uns Meyer auch eine Szenerie der Idylle, also ein Idealbild. Wir schauen auf die beständige, ruhige Tätigkeit des Wassers und schauen in unseren hektischen Tagen vielleicht auch auf etwas, dass wir verloren haben. Suchen wir es doch wieder.
Gedichtinterpretation: G. Jacob
Quellen und Hinweise
[1] Ein meiner Ansicht nach misslungenes Gedicht (mit gleichen Inhalt) will ich als Gegenbeispiel erwähnen. Es ist die "Römische Fontäne" von Rainer Maria Rilke: "Zwei Becken, ein das andre übersteigend; aus einem alten runden Marmorrand, und aus dem oberen Wasser leis sich neigend zum Wasser, welches unten wartend stand," ...
[2] "Lied vom Schlaf", Text von William Shakespeare: "Hush, no more, hush, no more; Be silent, be silent, be silent all; Sweet Repose; Sweet Repose has closed her eyes; Soft as feathered snow does fall!" ...
[3] Die Örtlichkeit des Dorfbrunnens ist unbekannt.
https://www.volksfreund.de/geben-immer-nur-geben_aid-6282416
https://www.dw.com/de/geben-immer-nur-geben-das-ist-mein-leben/a-19505826 Quasi eine Kopie jenes "Dorfbrunnens" steht in Otzberg-Lengfeld:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Rathausbrunnen_Otzberg-Lengfeld.jpg
Der römische Brunnen, der die vermutete Vorlage für das Gedicht ist, steht im Park der Villa Borghese in Rom.
[4] https://anthrowiki.at/Tertullian
[5] Kluge, Friedrich; Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (17. Auflage); Berlin 1957
Chorpartitur, Vertonung des Gedichts:
https://www.schott-music.com/de/roemische-brunnen-noq629.html
[ZP.GJ.2.10]