Die Uhr ist ein Gedicht und Liedtext von dem österreichischen Lyriker und Erzähler Johann Gabriel Seidl (1804 – 1875) stammt, aus dessen Feder auch die österreichischen Kaiserhymne "Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!" (1854) stammt. Die Verse von dem hier vorliegenden Gedicht "Die Uhr" (1852) ist ebenfalls als Liedtext sehr bekannt geworden, indem das Lied von von Johann Karl Gottfried Loewe (1796 – 1869) vertont wurde (op. 123 no. 3). Hier folgen nun die neun Strophen der typisch biedermeierlichen Ballade:
Die Uhr
Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wie viel es geschlagen habe,
Genau seh ich an ihr.
Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.
Ich wollte, sie wäre rascher
Gegangen an manchem Tag;
Ich wollte, sie hätte manchmal
Verzögert den raschen Schlag.
In meinen Leiden und Freuden,
In Sturm und in der Ruh,
Was immer geschah im Leben,
Sie pochte den Takt dazu.
Sie schlug am Sarge des Vaters,
Sie schlug an des Freundes Bahr,
Sie schlug am Morgen der Liebe,
Sie schlug am Traualtar.
Sie schlug an der Wiege des Kindes,
Sie schlägt, will's Gott, noch oft,
Wenn bessere Tage kommen,
Wie meine Seele es hofft.
Und ward sie auch einmal träger,
Und drohte zu stocken ihr Lauf,
So zog der Meister immer
Großmütig sie wieder auf.
Doch stände sie einmal stille,
Dann wär's um sie geschehn,
Kein andrer, als der sie fügte,
Bringt die Zerstörte zum Gehn.
Dann müsst ich zum Meister wandern,
Der wohnt am Ende wohl weit,
Wohl draußen, jenseits der Erde,
Wohl dort in der Ewigkeit!
Dann gäb ich sie ihm zurücke
Mit dankbar kindlichem Flehn:
Sieh, Herr, ich hab nichts verdorben,
Sie blieb von selber stehn.
Interpretation
Der Texte der straff gehaltenen Ballade ist zunächst selbsterklärend und klar, was im Zusammenspiel mit der Vertonung dem Stück außerordentlich zugute kommt. Der österreichische Lyriker setzt sich hier mit der Zeit philosophisch auseinander und vergleicht sie mit symbolisch mit einer mechanischen Taschenuhr. Zunächst ist zu solchen Uhren zu sagen, dass diese genau in jenen Jahren erstmals durch die industrielle Fertigung auch für breitere Schichten der Bevölkerung erschwinglich und damit Statussymbol der gutbürgerlichen Kreise wurde. Prompt greift der Dichter diese Entwicklung auf und gibt dieser neuartigen technischen Spielerei einen ernsthaften Hintergrund.
Tatsächlich änderte sich damals das Zeitempfinden rasant, denn wir befinden uns 1854 voll in der industriellen Revolution und im Dampfmaschinenzeitalter. Schon 30 Jahre zuvor begann die regelmäßige Dampfschifffahrt auf dem Rhein. Und bereits 1839 wurde die erste Überland-Eisenbahnstrecke Deutschlands eröffnet, welche von Leipzig nach Dresden führte. So bestimmte bald der Takt der Maschinen und der Fahrpläne das Leben der Menschen. Seidl war ein Zeitgenosse, der diese Umbrüche seit seiner Jungend voll miterlebte. Die Uhr ist damit nicht nur ein Symbol für die Zeit, sondern auch für den damaligen Fortschritt und für das moderne Leben.
Wer die Strophen des Gedichtes aufmerksam liest, der wird bemerken, dass es in den Versen und vor allem im dritten um das Zeitgefühl geht: "Ich wollte, sie hätte manchmal verzögert den raschen Schlag." Genau genommen ist das ganze Gedicht ein versuchter Ausgleich zwischen dem Zwiespalt des natürlichen früheren Zeitempfindens und des neuen Zeitgeistes.
Der Dichter beschreibt fortwährend Zeitqualitäten und hat dazu einen Maßstab mechanischer Natur. Dabei kommt auch die Metapher der Wanderschaft ins Spiel, welche gewisser weise auch wieder eine Rückbesinnung an die gute alte Zeit darstellt, auch wenn es dem Schreiber selber gar nicht bewusst war. Am Ende vergleicht er das das endliche Leben mit dem kunstvollen Menschenwerk einer Taschenuhr und weist auf den Übergang in die Ewigkeit zu Gott. Eine Besonderheit weist aber die Ballade, wie auch die Vertonung auf. Trotzdem wir diese neue, rasante Umbruchszeit am Ende des Biedermeier als Verfassungszeitpunkt haben, sind Wort und Melodie ganz und gar nicht diesem Diktat unterworfen. Das Lied fließt angenehm langsam dahin und ist gemeinsam mit dem Text ein wirkliches Kunstwerk, welches jeder einmal genossen haben sollte. [GJ.3.2] I